AUS DER BERLINER ZEITUNG: Ein halbes Jahr ohne Geld
In Berlin warten tausende Studenten auf Bafög, weil die Sachbearbeiter überlastet sind. Bald sollen Antragsteller auch ein Online-Verfahren nutzen können.
Er müsse jetzt wirklich sparen, sagt Oliver Hansen. Ins Kino und in die Kneipe gehe er zurzeit nicht mehr, dafür fehle ihm das Geld. Hansen ist 22, er studiert Informatik im dritten Semester an der Technischen Universität. Bisher zahlte ihm das Bafög-Amt jeden Monat 160 Euro, den Rest für seinen Lebensunterhalt geben seine Eltern. Doch seit drei Monaten bekommt Oliver Hansen kein Geld mehr vom Amt. Er hat im September einen Antrag auf Fortzahlung gestellt, seitdem wartet er auf einen Bescheid. Doch wann der kommt, das weiß er nicht.
Tausenden Studenten in der Hauptstadt geht es zurzeit genauso. Sie müssen monatelang ohne das Geld auskommen, das ihnen laut Bundesausbildungsförderungsgesetz (Bafög) zusteht. Denn im Bafög-Amt in der Behrenstraße in Mitte stapeln sich die Anträge, die Sachbearbeiter kommen nicht hinterher. „Die Mitarbeiter sind an der Belastungsgrenze“, sagt Petra Mai-Hartung, Geschäftsführerin des Studentenwerks, zu dem das Bafög-Amt gehört.
Urlaubssperre für alle Mitarbeiter
Und das hat Folgen für alle Beteiligten. In diesem Monat fällt die reguläre Sprechstunde für Studierende am Dienstag aus, Anrufe von Studenten nehmen die Mitarbeiter jetzt nur noch zu festgelegten Sprechzeiten entgegen und nicht mehr während der gesamten Öffnungszeiten, wie es bisher üblich war. Im Bafög-Amt darüber hinaus gilt Urlaubssperre für alle Mitarbeiter. Manche Kollegen arbeiten gegenwärtig auch am Wochenende.
Bemühten sich die Sachbearbeiter bisher, vollständig eingereichte Bafög-Anträge in der Regel im Laufe von sechs Wochen zu bearbeiten, könne es jetzt etwa acht Wochen dauern, sagt Petra Mai-Hartung. Und noch länger. Denn das Land Berlin überweist das Bafög nur einmal im Monat auf die Konten der Studenten.
Betroffene berichten von Wartezeiten von bis zu sechs Monaten. Viktoria Braunstein von der Bafög-Beratung an der Freien Universität sagt sogar, es gebe Studierende, die noch länger auf die Bafög-Zahlung warten müssten. „Für die Studierenden ist das finanziell dramatisch.“ Manche borgen sich jetzt Geld von Freunden und Eltern, manche leben von Erspartem, andere gehen jobben, obwohl sie lieber studieren würden, um ihren Studienabschluss nicht zu verzögern. Schon jetzt müssen 73 Prozent aller Studierenden während der Vorlesungszeit arbeiten.
Geschäftsführerin Mai-Hartung nennt mehrere Gründe für die angespannte Situation im Bafög-Amt. Mit der ständig wachsenden Zahl der Studenten in Berlin sei auch die Zahl der Bafög-Antragsteller gestiegen. Waren es im vergangenen Jahr etwa 40.000 Anträge, die eingingen, so wurde diese Zahl schon dieses Jahr schon im Oktober erreicht.
Bürokratie-Monster
Bis Jahresende rechnen die Mitarbeiter mit 42.000 Anträgen. Doch die Zahl der Sachbearbeiter sei mit 67 Stellen unverändert geblieben, hinzu kommt ein hoher Krankenstand. Etwa zehn Mitarbeiter fehlen pro Monat. Ihre Arbeit müssen Kollegen übernehmen, sie bearbeiten statt bisher 580 Anträge jetzt 740 Fälle pro Jahr.
Bafög-Anträge sind besonders aufwendig auszufüllen, sie gelten als Bürokratie-Monster. Der Normenkontrollrat der Bundesregierung hat kürzlich errechnet, dass ein Student im Durchschnitt 64 Minuten zum Ausfüllen der Formulare braucht. Der bürokratische Aufwand liegt bundesweit bei 21,4 Millionen Euro.
Abschlagszahlungen gefordert
Angesichts der angespannten Situation fordert der hochschulpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Lars Oberg, das Bafög-Amt auf, den Studierenden großzügig entgegenzukommen. „Es geht um die Existenzsicherung der Studenten. Können die Anträge nicht unverzüglich bearbeitet werden, müssen Abschlagszahlungen möglich sein“, sagt er. „Lieber soll das Bafög-Amt erstmal einen Euro zu viel zahlen, als 10.000 Studenten in die Pleite zu führen.“
Die Geschäftsführerin des Studentenwerks Mai-Hartung sagt, Vorausleistungen würde das Bafög-Amt in Einzelfällen gewähren. Und sie verspricht baldige Verbesserungen: Im Januar stellt sie vier neue Mitarbeiter ein. Zudem plane ihre Behörde, im Frühjahr 2013 ein Online-Verfahren einzuführen. Im Internet würde den Antragstellern beim Ausfüllen der Formulare geholfen.
- Berliner Zeitung